Dienstag, 24. Mai 2011

Der Northeimer Kessel – Versuch eines Protokolls

Nachstehend lediglich das, was ich am 22.5. erlebt habe und wie ich es erlebt habe. Ich verzichte dabei auf die Darstellung von Berichten Dritter über Geschehnisse, die ich nicht selber gesehen habe.

Sonntagmorgen, die Sonne scheint, also gutes Demo-Wetter. Für die Fahrt nach Northeim gibt es drei Optionen: Fahrrad, Auto, Zug. Fahrrad entfällt wegen der ungünstigen Wetterprognose für den Nachmittag, Auto kommt allein schon aus ökologischen Gründen nicht in Frage, also auf zum Bahnhof, um mit meiner „Bezugsgruppe“ aus Jusos und SPD-Mitgliedern gemeinsam zur Demo zu fahren.
Bereits vor dem Bahnhof wartet die Polizei auf die DemonstrantInnen. Ich komme unbehelligt durch, wohl weil ich nicht ins Raster passe: zu alt, weißes T-Shirt, weiße Turnschuhe, kurze Hose – sehe selbst mit meinem schwarzen Rucksack eher aus wie ein Wochenend-Ausflügler. Also erstmal durch. Anderen geht es schlechter. Sie müssen ihre Rücksäcke öffnen und kontrollieren lassen. Die passen aber auch ins Raster: dunkel gekleidet und unter 25. Für die Polizei reicht das offenbar schon, um als potentieller Gewalttäter zu gelten.
Im Zug trotzdem gute Stimmung. Ein paar Hundert Menschen mit Fahnen und Transparenten. Grüne, SPDler, Linke, Gewerkschafter, Unorganisierte, Antifa, Alte und Junge.
Am Bahnhof Northeim kommt dann das große Staunen: In zwei dicht5 gedrängten Reihen wartet die Polizei auf uns. Kein durchkommen, alle sollen ihre Rucksäcke öffnen. Ohne Kontrolle kommt niemand durch zum Versammlungsort. Doch niemand ist bereit, diese Prozedur über sich ergehen zu lassen, vor allem, weil einige ohnehin schon mal ihren Rucksack öffnen mussten.

Ich sehe, wie Viola von Cramon (MdL, Grüne) mit dem Einsatzleiter spricht, und gehe dazu, sie zu unterstützen. Der Mann ist leider für kein Argument zugänglich, dabei aber immerhin (und bis zum Ende) recht freundlich. Diese Szene wird sich in den nächsten Stunden mehrfach wiederholen. Immer wieder versuchen wir und ein paar andere, an Logik und Vernunft zu appellieren. Vergeblich.
Nach einer Stunde wird die Stimmung leicht gereizt. Das lange Stehen in der Sonne macht manche mürbe. Die Demo-Teilnehmer sind überwiegend luftig gekleidet, doch den PolizistInnen dürfte mittlerweile der Schweiß in die Stiefel laufen. Es gibt erste Rangeleien an der Spitze des nach wie vor formierten „Schwarzen Blocks“. Und immer wieder die Lautsprecherdurchsage, dass wir doch schließlich alle gehen könnten, wenn wir nur unsere Rucksäcke durchsuchen lassen würden. Die Personalien würden nicht festgestellt, so die Zusage. Komisch nur, dass das niemand so richtig glauben will. Dennoch: Manche lassen sich drauf ein, aber die Mehrheit bleibt.
Der ver.di-Jugendsekretär telefoniert mit dem Versammlungsleiter in der Stadt, damit dieser für unsere „Freilassung“ sorgt. Irgendwann kommt die Meldung über Lautsprecher, dass sich der Demo-Zug in Bewegung gesetzt habe und irgendwo auf uns warte. Und wieder diese hämische Durchsage, dass wir sofort gehen könnten, wenn …
Wir lassen uns nicht entwürdigen, bleiben lieber.
Ich bin froh, dass ich Sonnenmilch, Wasser und Bananen dabei habe und hole mir ein Eis aus dem Bahnhofskiosk. Später hat die Polizei den Zugang zum Kiosk versperrt. Die hatten schließlich ihr Versorgungsfahrzeug dabei und wurden laufend mit Getränken versorgt. Irgendwann war der Gang zum Klo auch nur noch unter Polizeibegleitung möglich. Schikane!
Im Bahnhofsgebäude sah ich plötzlich, wie Polizisten zwei Jugendliche hereinführten, deren Personalien feststellten, sie durchsuchten. Dabei hat die nicht einmal gestört, dass ich sie dabei fotografiert habe. Später hörte ich dann, dass die Polizei gezielt nach zwei Leuten in der Menge suchte und sie festgesetzt habe. Dann die Durchsage: Es werden keine weiteren Festnahmen mehr auf dem Gelände erfolgen.

Ein erneuter Versuch beim Einsatzleiter: Zugriff erfolgt, dann könne man den Rest doch bitte unbehelligt gehen lassen. Ich ernte Kopfschütteln und frage mich, wie lange das noch gehen soll.
Als dann die Meldung kommt, dass der Demo-Zug nicht länger auf uns warten wolle und sich wieder in Bewegung gesetzt habe, fällt mir nur der Begriff „unsolidarisch“ ein und dass hier die Bewegung gespalten wird. Die Polizei dürfte sich gefreut haben, die Nazis haben es zweifelsfrei. Da werden Leute, nur weil sie aus Göttingen kommen, als potentiell gewaltbereite und militante Chaoten dargestellt, die man durchaus der Polizei überlassen kann. Dass es sich bei diesen Gewalttätern unter anderem um SPD-Mitglieder, Grüne und Gewerkschafter handelt, hat anscheinend niemand bemerkt. Oder wollte es nicht.
Wenn die uns nicht auf ihrer Demo wollen, dann eben nicht. Die Verständigung untereinander klappt, man kennt sich schließlich. Konsens ist, dass wir nach wie vor nicht den Inhalt unserer Rucksäcke der Polizei präsentieren wollen, sondern lieber zurück nach Göttingen fahren werden. Und wieder ein Gespräch mit dem Einsatzleiter. Ich teile ihm mit, dass wir alle den nächsten Zug nach Göttingen nehmen würden. Bedingung: Keine Durchsuchungen und auch keine Durchsuchungen in Göttingen. Wir bekommen „freies Geleit“, allerdings mit der Auflage, dass ein Trupp der Bundespolizei im Zug mitfährt.
Nach vier Stunden verlassen wir endlich den an diesem Tag wohl merkwürdigsten Ort Südniedersachsens – um einige Erfahrungen reicher und trotzdem einigermaßen gut gelaunt.

An dieser Stelle könnte die Geschichte zu Ende sein … wenn wir nicht in Göttingen angekommen wären.
Gleich auf dem Bahnsteig wartete Polizei und griff sich ein oder zwei Personen aus der Menge. Erneutes Gerangel, Sprechchöre („Haut ab“) und ein mulmiges Gefühl. Unten im Bahnhof auch aufgereihte PolizistInnen … und dann die Überraschung am Ausgang: Schon wieder eingekesselt. Links und rechts vom Eingang standen Fahrzeuge dicht an dicht, etwa 20 m vor dem Eingang eine undurchdringliche Reihe Polizei.
(Anekdote am Rande: Als ich aus dem Bahnhof kam, winkte mich ein Polizist zu sich und bot mir an, zwischen den Fahrzeugen schnell rauszugehen. Ich sagte ihm, dass ich mich als SPD-Vorsitzender irgendwie für meine GenossInnen zuständig fühle und nicht einfach abhauen wolle. Das schien ihm nicht zu gefallen. Er fragte mich nach meinem Namen und verschwand. Durchlass bekam ich darauf natürlich nicht mehr, seine Kollegin sah recht energisch aus.)
Jegliches Einreden auf die Polizei („Ich will nach Hause, weiter nichts.“) half nicht, vom Northeimer in den Göttinger Kessel. Und dann die perfideste Aktion, die ich je erlebt habe: Über Lautsprecher kam die Durchsage, dass wir gehen könnten, wenn wir eine Demo machen wollten. Es müsse nur ein Verantwortlicher benannt werden, die Strecke habe die Polizei uns schon rausgesucht. Ich weiß nicht, wer dieses Risiko mit der Verantwortlichkeit auf sich genommen hat, aber plötzlich wurden die Reihen geöffnet und wir kamen alle raus.
Auf Demo hatte ich keine Lust mehr. Ich fuhr nach Hause.

Und wenigstens jetzt hätte die Sache für mich persönlich noch ein einigermaßen zu verkraftendes Ende gehabt, wenn nicht …

… plötzlich ein Anruf von einigen Jusos kam, die noch an der Demo in Göttingen teilgenommen hatten. Sinngemäß etwa „Die Bullen haben uns in der Roten Straße zusammengetrieben und wenden Gewalt an. Wir haben uns in eins der Häuser geflüchtet. Hol’ uns bitte hier raus!“
Als Ehrenvorsitzender der Jusos ist man in solch einer Situation natürlich gefordert. Als ich – schnell mit dem Auto – in der Roten Straße ankam, war die Luft allerdings wieder rein. Lediglich sieben PolizistInnen standen noch an der Ecke zur Wendenstraße und langweilten sich.

Mein persönliches Fazit von diesem Tag:

1. Das Niedersächsische Versammlungsgesetz ist offenbar ein Ermächtigungsgesetz für einen Polizeistaat. Bei dem Innenminister eigentlich kein Wunder.

2. Das Northeimer Bündnis hat anscheinend lieber die CDU mit auf der Demo gehabt als irgendwelche Göttinger, egal, ob diese nun von der SPD, der IG Metall, ver.di, den Grünen oder der A.L.I. kommen.

3. Das Göttinger Bündnis sollte sich schleunigst um eine Aufarbeitung kümmern.

4. Zur nächsten Demo fahre ich mit dem Fahrrad. Ohne Rucksack.